Nur ein einziges Mal im Jahr fahre ich zu meinem Bruder Niklas.
Das ist wahrlich nicht häufig und ich bin auch nicht sonderlich stolz auf die Tatsache. Eigentlich könnten wir uns viel häufiger sehen.
Richtig formuliert muss es aber wie folgt heissen: „wir hätten uns viel häufiger sehen können“. Bekanntermassen ist jeder Mensch einzigartig und so passiert es zuweilen, dass Charaktere nicht immer zusammen harmonisieren. Wir haben zu viele Chancen verstreichen lassen und es nicht geschafft, uns regelmäßig zu treffen und unsere Beziehung zu pflegen.
Meist die Arbeit. Termine. Pflichten.
Nach seinem Tod 2011 habe ich mir fest vorgenommen, wenigstens ein mal im Jahr zu ihm zu fahren. Dieser Tag soll der 28. September sein – Der Tag, an dem er starb.
Nur ein einiges Mal im Jahr möchte ich keinen anderen Menschen hören, mich abschotten und mit meinen Gedanken alleine sein. Ich möchte mir die Freiheit nehmen und mich auf ihn konzentrieren. Ich möchte in Erinnerungen schwelgen, ohne abgelenkt werden zu können.
Natürlich könnte ich das viel häufiger machen. Meine Süsse kann schon mit einem kurzen Blick erkennen, wie es in mir aussieht. Sie gibt mir die Möglichkeit, ehrlich zu sein und mich nicht verstellen zu müssen.
Ich möchte gar nicht trauern.
Ich vermisse meinen Bruder jeden Tag und muss mich daran gewöhnen, dass das auch so bleiben wird. Denn näher werde ich ihm nicht kommen können. Nicht näher, als an seiner letzten Ruhestätte zu stehen, den Baum, unter dem er beigesetzt ist, zu berühren, die Augen zu schliessen und längst vergangene Bilder vor dem inneren Auge zu betrachten.
Sein Körper wurde verbrannt und in einer Urne im Friedwald an der Burg Plesse beigesetzt. Das hielten wir damals für eine gute Idee. Heute weiss ich, dass der Friedwald nicht mit einem Friedhof zu vergleichen ist und dass es mir diese Tatsche viel leichter macht, an sein Grab zu treten. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, alleine in einem Wald zu stehen, dem Rauschen des Windes in den Baumkronen zu lauschen und nie das Gefühl zu haben, alleine zu sein. Ich hoffe sehr, dass er im Tod den Frieden bekommen hat, den er im Leben nicht finden konnte.
Die Fahrt in den Friedwald führt mich über Landstraßentraßen, die wir früher im tannengrünen VW Derby mit unserer Mutter befahren haben. Mein Weg führt durch den Frühnebel über die alte Harzstraße Richtung Seesen.
Ich bin mit meinen Gedanken alleine. Zu der Zeit ist kein Mensch unterwegs. Mir eröffnen sich wunderschöne Perspektiven über die Felder und Wiesen.
Leider habe ich nach einer guten Stunde die erste Etappe geschafft. Ich muss mich von der Alten Harzstraße verabschieden und durch Seesen fahren. Die Fahrradwege sind hier besser ausgebaut als um Goslar, allerdings nur im Bereich der Kernstadt. Also fahre ich eben auf der Straße. Das Verkehrsaufkommen ist gering und alle Autofahrer wirklich sehr aufmerksam. So macht das Radfahren Spass.
Hinter Ildehausen wird es ein wenig hügeliger.
So langsam verzieht sich die Kälte der Nacht und die Sonne kommt durch. Mir wird langsam etwas wärmer.
Überall steigen Rauchschwaden auf. Es riecht betäubend nach verbranntem Holz. Mir fällt es zeitweise schwer, ausreichend sauerstoffhaltige Luft einzuatmen. Scheinbar ist heute „Brennetag“.
Die eng aufeinander folgenden Bodenwellen sind immer eine Herausforderung. Heute komme ich aber gut durch und freue mich auf mein nächstes Etappenziel: Kalefeld. Dort hat meine Großmutter ein Haus. Leider ist sie nicht daheim, ansonsten hätte ich sie mal kurz besucht.
Eine Weisheit unter Radfahrern lautet: Was man bergauf fahren muss, das kann man auch wieder bergab fahren.
Leicht hypoxisch radele ich also durch die Täler um Kalefeld und Echte und komme irgendwann nach Northeim. Die Felder sind noch in ein mystisches Licht getaucht und zwingen mich zu einer weiteren Pause.
Nach der letzten Rast geht´s dann auf dem Fahrradweg nach Nörten-Hardenberg. Dort sind mein Bruder und ich aufgewachsen. Wir haben Dämme am Fluss undBuden im Wald gebaut. Wir haben uns gestritten und gezankt. Aber wir waren zusammen.
Für mich beginnt im Rodetal der anspruchsvollste Teil der Tour. Die Auffahrt zur Burg Plesse saugt mir immer wieder die letzten Reserven aus. Heute gehe ich es etwas langsamer an und schaffe es, gegen Mittag oben zu sein.
Nach einer letzten kurzen Rast in der Sonne und einem tollen Blick über das Leinetal zieht es mich in den Wald.
Alleine.